Der Titel dieses Blogs spielt natürlich auf das berühmte Magazin "Cahiers Du Cinema" (Notizen zum Kino) an, dessen Filmkritiker Francois Truffaut und Claude Chabrol später Regisseure und Wegbereiter eines neuen französischen Kinos wurden.
Dennoch ist dies kein arthouse Blog. Es ist ein Blog über die Liebe zum Film. Gute Filme. Und sehr schlechte. Egal woher sie stammen. Egal wie sie zu klassifizieren sind.

Sonntag, 11. Februar 2018

DAS GEWISSEN EINES EINZELNEN: „WER DIE NACHTIGALL STÖRT“ (1962) – TEIL 3



Gewidmet der Gruppe "Wir brauchen den Widerstand gegen Rechts"



TEIL 3: NACHSPIEL



Original - Kinotrailer von 1962



Die Weltpremiere fand am 25. Dezember 1962 in Los Angeles, Kalifornien statt.
Ein kurzer Original-Filmclip von dieser Welturaufführung, direkt vom roten Teppich, kann an dieser Stelle – der damaligen Wochenschau sei Dank – präsentiert werden:




Hier eine Rekonstruktion der Einladung, die Truman Capote zugestellt wurde, aus dem Film „Capote“ von 2005 mit Philip Seymour Hoffman in der Rolle des Schriftstellers:





Die spätere lokale  Premiere in Monroeville
Gerüchten zufolge betrank Capote, der spätere Autor von „Kaltblütig“ und „Frühstück bei Tiffanys“, der mit dem Erfolg seiner Jugendfreundin ganz und gar nicht umgehen konnte, sich unmittelbar nach der Premiere.
Etwas, das die Filmkritiker des Fachblattes „Variety“ offenbar unterließen, denn sie überschlugen sich regelrecht mit Lob:

Harper Lees hoch angesehener und überaus erfolgreicher erster Roman wurde kunstvoll und feinfühlig auf die Leinwand übertragen. Universals "Wer die Nachtigall stört" ist eine große filmische Leistung, ein bedeutendes, fesselndes und einprägsames Drama, das zu den besten der letzten Jahre zählt. Sein Erfolg in der literarischen Welt scheint sich in der Welt des Kinos zu wiederholen.
Allen Beteiligten ist zur guten Arbeit zu gratulieren. Offensichtlich floss liebevolle Fürsorge in den Prozess, durch den die komplexe Prosa der gedruckten Seite in die visuelle und dramatische Essenz filmischen Erzählens umgewandelt wurde. Horton Footes hochintelligentes Drehbuch, Robert Mulligans sensible und instinktiv beobachtende Regie und eine Vielzahl außergewöhnlicher Schauspielerleistungen sind allesamt wesentliche Fäden im reichen, provokativen Gewebe und kunstvoll verknüpften Handwerk von Alan J. Pakulas Produktion.

Gregory Peck bescheinigte man: Für Peck ist es eine besonders herausfordernde Rolle, die ihn dazu zwingt, seine natürliche körperliche Attraktivität zu verbergen und dennoch durch eine Fassade zivilisierter Zurückhaltung und resignierter, rationaler Kompromisse das Feuer der sozialen Entrüstung und der humanitären Besorgnis, die im Inneren seines Charakters brennen, durchscheinen zu lassen. Nicht nur gelingt ihm dies, sondern lässt er es auch noch mühelos erscheinen. [...]“   Weiterhin lobte man auch den Rest des Ensembles und hob besonders die drei Kinderdarsteller hervor, die, so hieß es, Gregory Peck beinahe die Schau stehlen würden mit ihrer Glaubwürdigkeit und Natürlichkeit.


Auch das Fachmagazin „The Hollywood Reporter“ äußerte sich 1962, in einer Rezension verfasst von James Powers, enthusiastisch:

Einer der besten Filme dieses wie jeden anderen Jahres, wird „Wer die Nachtigall stört“ sicher auch einer der Beliebtesten. Mit Sorgfalt von Alan J. Pakula produziert und von Robert Mulligan mit wahrer Brillanz inszeniert, ist diese Universal Produktion eine echte Erfahrung, so durchdringend und berührend, dass die Erinnerung noch lange nach dem Verlöschen des letzten Bildes verweilt. Es ist keine Frage, dass er einer der meistgeehrten Filme des Jahres werden wird.


Und an anderer Stelle:

Peck gibt wahrscheinlich die beste Leistung seiner Karriere - unterspielt, lässig, effektiv. Die drei Kinder sind nicht weniger als phänomenal.

Die überaus kundige Betrachtung schließt mit den Worten: „Wer die Nachtigall stört“ ist ein Produkt des amerikanischen Realismus und es ist ein seltener und wertvoller Schatz.


Harper Lee selbst stellte sich öffentlich hinter die Arbeit der Filmemacher indem sie folgendes Statement abgab:
Ich kann nur sagen, dass man meinen Roman in einen wunderschönen und bewegenden Film umgewandelt hat. Ich bin sehr stolz und voller Dankbarkeit.

Dieses Presseecho kündigte Großes für die Preisverleihungs – Saison 1963 (für das zurückliegende Filmjahr an) – und genau so kam es auch.
Auf dem Filmfestival von Cannes wurde „Wer die Nachtigall stört“ mit dem heute nicht mehr existierenden Gary-Cooper-Award ausgezeichnet, und die Writers Guild of America, der US Schriftstellerverband, vergab den Preis für das Beste Drehbuch des Jahres an Horton Foote. Auch bei dem von der Auslandspresse von Hollywood vergebenen TV- und Filmpreis , den „Golden Globes“, konnte der Film mit 5 Nominierungen (Bester Film-Drama, Beste Regie, Bester Hauptdarsteller, Beste Filmmusik und Best Film Promoting International Understanding – diese Kategorie ist mittlerweile nur noch Geschichte) und drei Auszeichnungen (Bester Hauptdarsteller: Gregory Peck, Beste Filmmusik: Elmer Bernstein und Best Film Promoting International Understanding: Alan Pakula) punkten. Die Serie setzte sich mit der Verkündigung der Oscarnominierungen für das Filmjahr 1962 fort: Nach David Leans Meisterwerk „Lawrence von Arabien“,mit 10 Nominierungen, war „Wer die Nachtigall stört“ mit 8 Nominierungen der zweite Favorit des Abends:



Patty Duke und Bette Davis auf der 35. Oscarverleihung
Was immer sich an diesem denkwürdigen Abend ereignen würde (und das war Einiges, einschließlich einer Intrige von Joan Crawford, die dazu führte dass sie, stellvertretend für Preisträgerin Anne Bancroft für „Licht im Dunkel“, den Oscar für die Beste Hauptdarstellerin in Verwahrung nehmen und somit ihre – für „Was geschah wirklich mit Baby Jane“ ebenfalls in dieser Kategorie nominierte – lebenslange Intimfeindin Bette Davis brutal demütigen konnte), es würde sich zwischen diesen beiden Filmen ereignen. Ungeachtet der starken Konkurrenz durch die brillante Theaterverfilmung „Licht im Dunkel“, das gewagte Alkoholikerdrama „Die Tage des Weines und der Rosen“, den Kriegsfilmklassiker „Der längste Tag“ und der farbigen Neuverfilmung von „Meuterei auf der Bounty“ mit Marlon Brando.  Mary Badham war – mit zum Zeitpunkt des Drehbeginns 9 Jahren Lebensalter – die bis dahin jüngste Person die je für einen Oscar nominiert worden war (Tatum O'Neal würde sie 1973 mit „Paper Moon“ unterbieten). Ironischerweise war sie gegen eine andere Kinderdarstellerin nominiert, nämlich Patty Duke, die in der Theateradaption „Licht im Dunkel“ (The Miracle Worker) virtuos die taubblinde Helen Keller gespielt hatte, so wie zuvor über 1000 Mal auf der Bühne.

Auch Gregory Peck war gegen eine außerordentlich starke Konkurrenz aufgestellt. In der Kategorie „Best Performance By An Actor In A Leading Role“ waren vorgeschlagen:




Dabei gab Burt Lancaster in „Der Gefangene von Alcatraz“ in seiner famosen Darbietung eines sich durch Vogelzucht zum Guten wandelnden Langzeitgefangenen, basierend auf einer wahren Geschichte, vielleicht die Rolle seines Lebens. Dem Ausnahmekomödianten Jack Lemmon wiederum gelang als Säufer Joe Clay in der schonungslosen und gewagten Alkoholismusstudie „Die Tage des Weines und der Rosen“ der Durchbruch ins ernste Fach. Mit unbegrenztem Mut gespielt, auch offscreen: Lemmon war damals, wie er Jahrzehnte später öffentlich machte, tatsächlich schwerer Alkoholiker.
Marcello Mastroianni hingegen wurde mit seiner grandiosen komödiantische Leistung in „Scheidung auf italienisch“ (Divorzio all’italiana) international bekannt. Und zu guter Letzt Peter O’Toole lieferte in seiner unerreichten tour de force als T.E. Lawrence in „Lawrence von Arabien“ die , neben “Der Löwe Im Winter”, beste Leistung seiner Karriere.
Keine der Darstellungen war fachlich „schlechter“ als die der Anderen. Alle fünf Darstellungen machten Filmgeschichte.

Ich hätte es nicht entscheiden wollen.


Die Nacht der Entscheidung nahte.
Es war der 8. April 1963. Die 35. Oscarverleihung fand im Santa Monica Civic Auditorium statt, und wurde von niemand Geringerem als Frank Sinatra persönlich moderiert.
Der erste Preis des Abends, präsentiert von George Chakiris, dem Nardo aus „West Side Story“, ging an die Beste Nebendarstellerin:




Mary Badham fühlte sich gar nicht enttäuscht (das zeigen auch die Fotos), sondern maßlos erleichtert, denn:
"Jeder hatte diese wunderbaren Dankesreden, und ich hatte keine Ahnung, was ich sagen wollte."
Das blieb ihr nun erspart.
Dafür hatte sie noch drei weitere Male Grund für „ihren“ Film zu Jubeln. Zunächst für den Preis für das beste adaptierte Drehbuch an Horton Foote (erste Hälfte des Clips)....



Für das Produktionsdesign in Schwarzweiß (Henry Bumstead, Alexander Golitzen & Oliver Emert) ….




….und, schließlich, gegen Ende des Abends, nahte der Preis für den besten Hauptdarsteller. Gregory Peck, der so überzeugt war, dass sein Freund Jack Lemmon, wie er ein Linker, den Oscar erhalten würde, dass er keine Rede vorbereitet hatte, griff unwillkürlich in seine Westentasche. Seine Finger berührten die Uhr von Amasa Coleman Lee. Und dann geschah dies....





Peck selbst führte den Preis nicht etwa auf seine eigene Leistung zurück, sondern richtete mit der ihm eigenen Zurückhaltung den Fokus auf jemand Anderen: Den farbigen Schauspieler Bill Walker. In der Schlüsselszene des Films, unmittelbar nach der Urteilsverkündung, als Atticus ohne sich auch nur einmal umzusehen den Gerichtssaal verlässt, ist es Walker, in der Ein-Satz-Rolle des Reverend Sykes der die heute beinahe geflügelten Worte spricht: „Miss Jean Louise....Miss Jean Louise, stand up. Your father is passing“.
„In dem Moment als Bill Walker diese Worte sprach, hatte ich den Oscar“ so Gregory Peck.


Veronique Peck, Goldmännchen, Gregory Peck und Mary Badham, diesmal
ganz feminin, während der Oscarverleihung 1963.


Gregory Peck nach dem Sieg mit der Präsentatorin, seiner guten Freundin,
Sophia Loren, die offenbar selig ist....
Die Zeit, die diese Darstellung mit fortschreitendem Klassikerstatus des Films fast zur Ikone erhöht hat, hat darüber hinaus gezeigt, dass diese Wahl durchaus vorausblickend war. Von diesen fünf großen Darstellerleistungen ist es nämlich unzweifelhaft die Darstellung Gregory Pecks die sich bei weitem am tiefsten in das kollektive Bewusstsein des Publikums eingegraben hat.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür ergab eine Umfrage des American Film Institute (AFI) unter Filmschaffenden im Jahr 2003. Gesucht wurden die größten Bösewichte und größten Heldenfiguren der Filmgeschichte. Vor allen üblichen Verdächtigen wie „Superman“ und „Indiana Jones“ landete Pecks Portrait des Atticus Finch mit weitem Abstand auf Platz 1.
Wenige Wochen bevor er starb.

Der größte Held der Filmgeschichte – ein liebender Vater; ein verwitweter Kleinstadt-Anwalt von hohen moralischen Grundsätzen, der nur versucht das Richtige zu tun. Ein ungewöhnliches Ergebnis, das Zeugnis ablegt für die literarische Kunst von Harper Lee und Horton Foote, aber auch für die Schauspielkunst Gregory Pecks.
Hier der Clip mit dem das Ergebnis damals vorgestellt worden ist:




Nach der Preisverleihung ist vor dem Alltag.
Was geschah mit den Protagonisten der Hintergrundgeschichte von „Wer die Nachtigall stört“ nach dem Film?

Auch diese Ereignisse sind untypisch und sollen hier daher kurze Erwähnung finden.


MARY BADHAM kehrte nach Birmingham, Alabama zurück. Ein Kulturschock für das Kind, denn wie Badham der El Paso Times im Jahr 2012 sagte: "Alles in Kalifornien war so anders." Als sie nach fünf Monaten in Hollywood nach Hause kam, war sie, aus Angst vor dem, was sie im liberalen Westen womöglich aufgeschnappt hatte, nicht mehr bei den Familien ihrer Freunde und Spielkameraden erwünscht.
Philip Alford erlebte dasselbe.

In Badhams Fall kam die Enthüllung, wie viel sie wirklich `aufgeschnappt´ hatte, über ein Glas Limonade, das sie dem schwarzen Botenjungen angeboten hatte, der die Lebensmittel auslieferte. Die beiden Kinder saßen am Küchentisch, erinnerte sich Badham, als ihre Mutter ihm sagte, er solle gehen.
"Sie sagte: Du bist nicht mehr in Kalifornien ", so Badham gegenüber dem Interviewer Alex Hinojosa. "Ich wurde so wütend. . . Also ging ich zu meinem Vater und Daddy sagte: "Schatz, dein Herz ist am richtigen Fleck - aber deine Mutter hat Recht. Du bist nicht mehr in Kalifornien. '"


Wie die Zeit vergeht ...
Mary Badham war bis 1966 noch in weiteren TV- Filmproduktionen zu sehen, bevor sie ihre künstlerische Laufbahn im biblischen Alter von 14 Jahren aufgab. Nicht aufgeben musste, sie, wie sich herausstellte, die Bindungen die während des intensiven Drehs entstanden waren. Wenige Jahre nach dem Film klingelte zum ersten Mal das Telefon, eine vertraute, tiefe Stimme sagte „Hey Kiddo, wie geht es dir?“ Es war Peck. Er blieb mit Mary Badham bis zu seinem Tode im Jahr 2003 eng befreundet, er nannte sie immer noch liebevoll „Scout“, sie nannte ihn „Atticus“ , und erfüllte nach dem zu frühen Tod von Badhams Eltern die Rolle eines Ersatzvaters – ebenso wie Brock Peters dies tat, der gleichfalls bis zum Ende seines Lebens mit Badham in Kontakt blieb. Später pflegte sie zu sagen „Ich hatte drei Daddys...meinen leiblichen Vater, Gregory Peck und Mr. Peters“

PHILIP ALFORD arbeitete noch bis 1972 gelegentlich als Schauspieler, und ist heute ein erfolgreicher Geschäftsmann, vermutlich kurz vor dem Ruhestand.



Truman Capote und Harper Lee mit neuer Frisur (rechts)
In vielerlei Hinsicht machte HARPER LEE dieselbe Erfahrung wie Mary Badham, als sie nach einigen Jahren in New York nach Monroeville in Alabama, zurückkehrte, wo sie bis ins hohe Alter lebte.In den Anfangsjahren fühlte sie sich unbehaglich.
"Ich weiss nicht, ob ich den Mund halten kann", erzählte Lee einem Freund. "Ich fühle den Drang mich einzumischen, also wird bald überall in Monroeville bekannt werden, dass ich Mitglied der NAACP bin. . . Sie halten das sowieso schon für erwiesen"




Truman Capote und Harper Lee, Mitte der Sechziger Jahre. Truman signiert
seinen Roman "Kaltblütig"
Die Freundschaft mit Truman Capote zerbrach über die Jahre; das mag sowohl an dessen bedauerlicher Drogenkarriere, seiner soziopathischen Persönlichkeitsstruktur oder aber auch daran gelegen haben, dass Capote (ebenso wie dessen Stiefvater) jahrelang Gerüchte und Andeutungen streute, er selbst sei in Wirklichkeit der Autor von „Wer die Nachtigall stört“.

Den entscheidenden Knacks aber dürfte die schwierige Zusammenarbeit der Beiden an Capotes „Kaltblütig“ (In Cold Blood) von 1965 gebracht haben. Mit „Kaltblütig“ das auf einem wahren Verbrechen, einem Vierfach-Mord an einer Farmersfamilie in Kansas, basierte, erfand Capote schlichterdings eine ganz neue literarische Gattung, die es so vorher nicht gegeben hatte: Den Dokumentarroman. Aufgrund seiner Angst vor fremden Menschen überredete er Nelle Harper Lee ihn zu den Recherchen nach Kansas zu begleiten, um die Kontakte herzustellen und ihn zu beraten. Heute, da das komplette Hintergrundmaterial vorliegt, wird mehr und mehr klar welch ungeheuren Beitrag Lee zu Capotes Ausnahmebuch geliefert hat.
Fast alle Interviews wurden von ihr geführt, nicht von ihm.

Die meisten Kritiker gehen heute davon aus, dass er, aufgrund des Umfangs ihrer Mitarbeit während des 6-jährigen Entstehungsprozesses, Lee eine Nennung als Co-Autorin hätte gewähren müssen und vermutlich auch versprochen hatte. Stattdessen widmete er ihr das Buch, allerdings erst an zweiter Stelle - nach seinem aktuellen Geliebten.
Die Recherchen zu „Kaltblütig“ sind Gegenstand des Spielfilms „Capote“ von 2005.

Truman Capote (Phillip Seymour Hoffman) und Harper Lee (Catherine Keener) recherchieren den Vierfach-Mord in "Capote" (2005)


Ab 1966 verschwand Harper Lee aus der Öffentlichkeit. Nach einigen Essays, Zeitungsartikeln und Leserbriefen hörte sie auf zu publizieren. Sie verweigerte jedes Interview. Sie führte keineswegs das Dasein eines Eremiten, galt im Gegenteil als freundlich und gesellig, jedoch durchaus das einer nicht-öffentlichen Privatperson. Sie veröffentlichte nie ein weiteres Buch.
55 Jahre lang.

Dennoch wurde sie im Jahr 2007 für ihr, aus einem einzigen Buch bestehendes, literarisches Lebenswerk mit dem höchsten zivilen Orden der USA, der Medal Of Freedom ausgezeichnet. Offensichtlich guter Laune, doch bereits erkennbar gebrechlich, absolvierte sie, gestützt auf den Arm des Präsidenten George Walker Bush ihren letzten öffentlichen Auftritt:




Was Harper Lee zum Schweigen gebracht hat, dazu, wie Mark Childress es ausdrückte „Auf dem Altar der öffentlichen Publicity nicht mehr opfern zu wollen“ – wir werden es wohl nie erfahren. War es das möglicherweise tatsächlich übergriffige Verhalten der Lektorin Hohoff, das sie nicht noch ein zweites Mal ertragen wollte? War es ganz einfach ein banaler Fall von Schreibblockade? War es der Bruch mit Truman, und sein furchtbares Schicksal, das sie aus der Ferne, hilflos, miterleben musste? War sie zu sehr eingeschüchtert, niedergedrückt davon, schon zu Lebzeiten eine Legende zu sein, lähmte die unfassbare Erwartungshaltung, die Angst vor dem Versagen ihren Stift?
Ahnte sie die Reaktionen, die 2015 aus allen Ecken auf sie niederprasselten, als der Erstentwurf „Gehe hin, stelle einen Wächter“ nachträglich veröffentlicht wurde?



Dieser frühe Roman ist bitterer, ein Abgesang der einem gelegentlich das Herz bricht (die Calpurnia Szene), und in manchem ehrlicher als sein großer Nachfolger, aber dessen umwerfendes Niveau erreicht er nicht. Für sich selbst genommen ist er ein sehr gutes Buch; ein nicht ganz makelloser, aber erstaunlich guter Erstling, in der politischen Analyse rasiermesserscharf und in der Rassenfrage noch radikaler als „Nachtigall“

Er ist aber auch als literarisches Artefakt extrem aufregend – man kann teilweise wie ein Archäologe rekonstruieren was woraus entstand, einige wenige Stellen hat Lee sogar wörtlich beibehalten. „Watchman“ ist auch ein Resonanzraum, ein Spiegel der uns „Nachtigall“ klarer und neuartig reflektiert. Dass Lee Atticus im Nachfolger so positiv dargestellt hat, wie sie ihn hier im Vorläufer zwiespältig macht, beweist dass es sich dabei um eine bewusste schriftstellerische Entscheidung handelt und nicht um die Naivität der Autorin wie oft unterstellt wurde. Es bedeutet, dass Lee die Perspektive der jungen Tochter die den Papa etwas glorifiziert mit ungeheurer Konsequenz, ja Kühnheit das ganze Buch durchgehalten hat. Dieser Skriptfund ist auch ein unwiderlegbarer Gegenweis zur Behauptung Truman Capote habe in Wirklichkeit „Nachtigall“ verfasst – die Handschrift von Harper Lee ist in beiden eindeutig die Gleiche. Dieser Rufmord ist damit für immer von Tisch. Sogar dem Geheimnis warum Lee nie ein zweites Buch veröffentlicht hat sind wir nähergekommen. Man muss nur die Reaktionen der Kritiker lesen. Wer würde sich dem in jungen Jahren schon freiwillig aussetzen wollen?

Oder war es so, wie die über 80- jährige Lee in erstaunlicher Gelassenheit ihrem Nummer-1 Fan Oprah Winfrey, die sie zu einem Interview bezirzen wollte, versicherte: „Honey, ich habe alles gesagt, was zu sagen hatte“?




GREGORY PECKS Karriere lief ungebrochen weiter. Er spielte in Thrillerklassikern wie „Die 27. Etage“ (1965) und „Arabaske“ (1966), lieferte eine unterschätzte aber exzellente Darstellung des britischen Botschafters Robert Thorn der in „Das Omen“ (1976) nach und nach zu der Erkenntnis gelangt, dass sein Sohn der Antichrist ist, brillierte sowohl als General McArthur in „McArthur -Held des Pazifiks“ (1977) als auch als der Todesengel von Auschwitz Dr. Josef Mengele in der Verfilmung von Ira Levins „Boys From Brazil“ (1978). Durch seinen Aktivismus für die Schauspielergewerkschaft und als freigeistiger Präsident der Academy Of Motion Picture Arts And Sciences erwarb er sich höchsten Respekt seiner Kollegen, und wegen seines sozialen Engagements und seinem Aktivismus gegen den Vietnamkrieg (auch als Filmproduzent) schaffte er es sogar auf die persönliche Feindesliste des US-Präsidenten Richard Milhous Nixon.
Seine letzte Filmrolle spielte er 1998 als Father Mapple in der TV-Neuverfilmung von „Moby Dick“ (Mit Patrick Stewart als Ahab) – für sie erhielt er einen Golden Globe als Bester Nebendarsteller.

Als der vierfache Vater Gregory Peck 2003 starb, galt er nicht nur als einer der letzten Vertreter des alten, klassischen „Hollywood“ , sondern auch als einer der meist respektierten und meistgeschätzten Schauspieler Amerikas. Auf die Frage wie man sich an ihn erinnern solle, hatte er einmal geantwortet: „Ich möchte, dass man sich an mich erinnert als einen guten Geschichtenerzähler und vor allem als einen liebevollen Vater, Großvater und guten Ehemann“



Verleihung des Lifetime Achievement Awards des American
Film Institute an Gregory Peck, 1989


Bei seiner Trauerfeier war das Passwort für den Einlass „Atticus“.
Die Trauerrede hielt jener Mann, für den Gregory Peck einst als Atticus gesprochen hatte, Brock Peters, auch ihn verband eine lebenslange Freundschaft mit dem scheuen Star. Er schloss die Rede mit den Worten:
 „Meinem Freund Gregory Peck, meinem Freund Atticus Finch: Vaya con dios“



„Wer die Nachtigall stört“ entwickelte in der Folge noch ein weiteres, drittes Leben, nach Roman und Film, nämlich als Bühnenstück. Die Theaterfassung in zwei Akten (die im angloamerikanischen Raum typische Struktur) aus der Feder des mit Bearbeitungen erfahrenen Christopher Sergel feierte ihre Premiere 1990 in Harper Lee’s Heimatstadt Monroeville.
Es wird seither dort, wo man heute sehr stolz auf seine berühmte Autorin ist (auch weil man die kommerziellen Möglichkeiten erkannt hat) jedes Jahr als vielbesuchte Laienspielproduktion open air aufgeführt, es handelt sich dabei regelrecht um ein städtisches Ritual.


Robert Sean Leonard als Atticus Finch
Im Jahr 2006 und 2011 tourten Profi-Produktionen von Sergels Theateradaption des West Yorkshire Playhouse und des York Theatre Royal mit großem Erfolg durch England. Die meist beachtete Inszenierung war 2013 vor ausverkauftem Haus im Regent’s Park Open Air Theatre in London zu sehen, mit Robert Sean Leonard in der Rolle des Atticus Finch. Es war seine erste Theaterarbeit in England seit 22 Jahren. Obwohl er die Rolle 2015 für eine Tournee wiederholte, hatte er anfangs größte Bedenken den Part überhaupt zu übernehmen, weil der Schatten von Gregory Pecks überlebensgroßer Darstellung zu einschüchternd erschien:

Jeder hat gefragt, ob ich mir Sorgen um das britische Wetter mache, aber wenn die Aussicht, vor 1.200 Menschen mit dem Schatten von Gregory Peck zu ringen, dich nicht mehr erschreckt als der Regen, dann bist du nur verwirrt! [Lacht] Ich rechne nicht damit, dass eine große Zahl an Leuten Gregory Pecks Darstellung nicht mitbekommen hat.

Nach Pecks Leistung gefragt, wird Leonard sehr deutlich:

Ich bin der Erste, der zugibt, dass sie umwerfend ist. "Perfekt" ist ein überstrapaziertes Wort, aber es ist eine ziemlich unangreifbare Leistung. Wenn jemand beim Anblick der Anzeige sagt: "Warum sollte jemand versuchen, diese Rolle neu zu gestalten?" wäre ich der Erste der zustimmt. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass die Bühne anders ist als der Film, also denke ich, dass es sich lohnt, sie zu erforschen. Es könnte ein lohnendes und bewegendes Theaterstück sein.

So sah es das Publikum auch. Die Aufführung erhielt begeisterte Kritiken und wurde auch kommerziell ein Riesenerfolg. Leonard näherte sich der Figur schließlich vorsichtig an, indem er Pecks Ansatz und Prämisse für die Rolle komplett übernahm, und letztlich seine eigene und völlig eigenständige Interpretation dieses Ansatzes fand.


In dem Augenblick da ich diese Zeilen tippe ist eine weitere, neue Bühnenfassung des Stoffes in Arbeit. Drehbuchautor Aaron Sorkin („The West Wing“, Oscar für „The Social Network” 2010) der seine ersten Schritte als Dramatiker gemacht hatte, unter anderem als Autor des später verfilmten Stücks “Eine Frage der Ehre”, verfasst das Skript für eine Broadway-Produktion, die im Dezember 2018 unter der Regie von Bartlett Sher Premiere feiern soll.

Die Besetzung ist zur Stunde noch nicht bekannt.


Und der Film selbst?
Wie hat er die Zeit überdauert?
Hat er noch eine Resonanz für uns heute, in unserer Zeit, oder hat sich die Patina des Überalterten, Aus-der-Zeit-Gefallenen über ihn gelegt und ihn zum bloßen Relikt werden lassen? Die Antwort ist eindeutig. Denn, auch wenn man „Wer die Nachtigall stört“ sein Alter ansieht, seine Qualitäten sind um keine Sekunde gealtert und seine komplexe Abhandlung von Rassismus und Vorurteilen, seine fundamentale moralische Verankerung scheinen heute wichtiger, als sie es je waren. Mehr noch: Der Ruf des Films ist mit dem Lauf der Zeit gewachsen; Roman und Film, kurz nacheinander entstanden, wirkten auf einander und potenzierten die öffentliche Wahrnehmung bis zu einem Punkt, da sie fast synonym wahrgenommen wurden. Aus einem schlichten Buch und einem bloßen Film entstand ein Phänomen, größer und umfassender als diese beiden Kunstwerke es für sich allein wären.

Der Spielfilm „Wer die Nachtigall stört“ galt bereits in den 60ern und gilt noch heute als einer der besten Filme der 60iger Jahre; er gilt auch als bedeutender Klassiker und eines der hervorragendsten Werke der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Dieser Status, diese Tiefenwirkung lässt sich am besten erfassen, wenn man in Augenschein nimmt, wie über ein Kunstprodukt mit der Distanz der Jahrzehnte gesprochen wird.
Werfen wir dazu einen Blick auf den Trailer zur restaurierten Blu-Ray-Fassung anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Films:




Aufschlussreich auch wie Filmhistoriker Robert Osborne und Schauspielerin Sally Field „Wer die Nachtigall stört“ in der Reihe „The Essentials“ für Turner Classic Movies diskutierten:


Oder hier die Statements von Harrison Ford und Laurence Fishburne (beide avide Fans des Klassikers):


Statement von Harrison Ford



Statement von Laurence Fishburne


Und die sehr persönliche Huldigung von Nathan Lane:



Zum 50-jährigen Jubiläum gab es natürlich auch ein Anniversary Screening – nicht irgendwo, sondern im Weißen Haus, und die Einleitung sprach kein Moderator, sondern der damalige US-Präsident Barack Hussein Obama:



50th Annibersary Screening



Anmoderation Barack Obamas für
 Jubiläums -TV-Ausstrahlung



Weit ausufernde, teils umwerfend gut gelungene Fan Art hat sich über die Jahre entwickelt. Sie umfasst Zeichnungen und selbst designte Buchcover, satirische Darstellungen, besonders gern mit lesenden Katzen, die sich ob des vermeintlichen Jagdsachbuches („To Kill A Mockingbird“ wörtl. = Eine Spottdrossel zu töten) irritiert zeigen. Andernorts deutete man ironisch an, Atticus Finch wäre vermutlich sogar für die in „Der Exorzist“ von einem Dämon Besessene Reagan McNeil ein Idealvater gewesen.








Scout in der Wildnis: Fan Art


Fan Art:  Titelbild als Comic

Satire zur Veröffentlichung von "Gehe hin, stelle einen Wächter"


Und selbstverständlich fehlt auch der ultimative, in diesem Fall gleich doppelte, Ritterschlag nicht, die liebevolle Verballhornung in diversen Episoden von „Die Simpsons“:

"Itchy & Scratchy" goes "Mockingbird"



Homers Expertise über den Roman.


Vielleicht das allergrößte Kompliment, das man einem Roman oder einem Film machen kann, ist, wenn er so legendär geworden, so massiv ins kollektive Gedächtnis übergegangen ist, dass man eigentlich überhaupt nichts mehr erklären muss. So wie dieser schlichte, aber bezaubernde Tribut in Cartoon-Form aus der Chicago Tribune, zum Tode von Harper Lee am 19. Februar 2016, überhaupt nichts mehr erklären musste....






Heute steht in Monroeville, Alabama, der Stadt die das Vorbild für das fiktive Maycomb war, auf dem Platz vor dem Gerichtsgebäude, eine Statuengruppe, vor einer Bank. Sie stellt zwei Jungen und ein Mädchen dar. Die Jungen, Dill links und Jem rechts, blicken dem Mädchen über die Schulter, das auf der Bank sitzt und liest.
Das Buch, das eine unsterbliche Scout Finch aus Bronze liest, ist „Wer die Nachtigall stört“ von Nelle Harper Lee.

Und manchmal, wenn die Sonne in einem ganz bestimmten Winkel steht, hat man fast das Gefühl, sie lächle und sei kurz davor die berühmten, so berühmten, letzten Worte zu lesen, die ihren Vater beschreiben, wie er am Bett ihres Bruders sitzt, der sich gerade den Arm gebrochen hat „Ich wusste, er würde jetzt die ganze Nacht in Jems Zimmer bleiben. Und er würde da sein, wenn Jem am Morgen erwachte“. Dann, flunkert die Sonne, werde sie es bestimmt zuklappen, mit dem Geräusch das nur Bücher von sich geben können, wenn sie sich schließen. Und sie würde es, wie so viele Millionen Leser vor und nach ihr, wieder bei der ersten Seite aufklappen, und es von Neuem Lesen, von Neuem Eintauchen in die Welt von Maycomb County, Alabama, 1932....



ENDE



Teil 1 des dreiteiligen Essays "A Novel Of Rare Excellence" finden Sie hier:
https://uncahierducinema.blogspot.de/2018/02/das-gewissen-eines-einzelnen-wer-die.html


Teil 2 des dreiteiligen Essays "Scenes From Maycomb" finden Sie hier:
https://uncahierducinema.blogspot.de/2018/02/das-gewissen-eines-einzelnen-wer-die_10.html



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